Standortbetrachtung
Vietnam, daß war 1995 - und dies als These vorausgeschickt - "der kleine Tiger auf dem Fahrrad", "das Hungerland, daß nach der gänzlichen Aufhebung des Embargos der USA binnen kurzer Frist in den Kreis der dynamischen südostasiatischen Länder aufschließen wird. So jedenfalls die Einschätzungen alter Asienfachleute, die von sich behaupten können, " den Bambus wachsen zu hören". Eine generelle aussage über den Wirtschaftsstandort verbietet sich aus Gründen der Vorsicht dennoch, denn Vietnam befindet sich in einer schwierigen Übergangsphase, die politisch noch untersetzt werden muß. Hauptgefahr für den Wirtschaftsstandort ist nach meiner Einschätzung nicht ein Mangel an Reformwilligkeit auf Regierungsebene, sondern die Eigendynamik der Öffnungspolitik. Zu befürchten ist, daß nach der Mittelfreigabe durch Weltbank und IWF Milliardenbeträge für Infrastrukturprojekte lediglich durchgeschleust werden, nicht aber im Lande verbleiben und für den wirtschaftlichen Aufschwung sorgen. Die anhaltende Kosten und Preisentwicklung erweist sich heute bereits als negativ.
Übrigens: Heute fährt der Tiger bereits Moped !
Negative Standortfaktoren
Die kommunistische Partei und Verwaltungsstruktur
eine desolate Infrastruktur und Energieversorgung,
anhaltende Kriegsfolgen (Chemieverseuchung "agent orange"),
mangelndes Kapital,
veraltete Produktionskapazitäten,
fehlende gesetzliche Rahmenbedingungen,
Fehlen der Gewerbefreiheit für Ausländer, z.b. Handel,
fehlender und vollstreckbarer Rechtsschutz,
ineffektive Verwaltung,
Bürokratie und Korruption,
zersplitterte und nicht immer gesicherte staatliche Hilfe,
fehlende Hermesdeckungen,
offene Fragen des Verkehrs, Steuer- und Investitionsschutzabkommens,
mittelfristig: Ausbildungsnachteile. Die Schulbildung leidet, da viele Schüler vorzeitig Schulen und Universitäten verlassen, weil in der Privatwirtschaft mehr verdient wird.
geringe Erfahrung, auch wenn Erfahrung vorgegeben wird. Internationale Standards und Normen sind weitgehend unbekannt oder zumindest nur oberflächlich bekannt. Gebrauch von üblichen Begriffen, um eigene Schwäche zu überwinden. Bei Verträgen jeden Begriff umfassend erläutern und unbestimmte Rechtsbegriffe vermeiden. Scheinbar bestimmte Begriffe können unbestimmt oder anders als in Europa verstanden werden.
Managementprobleme auf vietnamesischer Seite: Vietnam sieht die stürmische Entwicklung und Gründungstätigkeit von Gemeinschaftsunternehmen nicht nur positiv. Auf der Ebene des eigenen Managements werden große Probleme konstatiert. So werden in den nächsten drei Jahren (1994-97) allein für die Boardfunktionen in Gemeinschaftsunternehmen 1.600 Manager benötigt, die das Niveau ihrer ausländischen Partner auch nur annähernd erreichen.
Ausländer werden mitunter schlecht behandelt oder übervorteilt. Reaktion auf entsprechende negative Erfahrungen von Vietnamesen. Auch in der Administration ist eine Grundhaltung nicht selten, nach der jeder Ertrag oder Gewinn für einen Ausländer oder ein ausländisches Unternehmen zuviel ist.
Kostenfaktoren: Die Kosten für den Geschäftsbetrieb und die Mitarbeiter sind in Vietnam nicht zu unterschätzen. Vietnam ist aufgrund der erheblichen Infrastrukturdefizite derzeit noch ein teurer Investitionsstandort. Die Mieten sind mit Preisen für ein Büro zwischen 2.500 und 10.000 US$ im Monat ebenso hoch wie die Reise- und Transportkosten. Ein Flug von und nach Vietnam ist teuer, für die Inlandsverbindung Hanoi-HCHMC muß mit 420 US$ return gerechnet werden. Büromaterialien sind ebenso teuer wie die Gebühren der Telekommunikation. Ein Fax nach Europa kostet pro Seite rund 20 DM. Adena/Borger/Dahm wiesen nach Untersuchungen der Mitsubishi Corporation; in ihrer Recherche darauf hin, daß Gesamtproduktionskosten derzeit noch höher als in Thailand sind.
Positive Standortfaktoren
deutschfreundliche Umgebung, hohe Sprachkompetenz
Vietnam ist politisch stabil und am stabilsten in der Region Südostasien.
Nach Indonesien verfügt Vietnam über das zweitgrößte Konsumentenpotential in Südostasien, bei einer (ansteigenden) Arbeitslosenzahl von 20%.
Die Ablösung der Partei aufgrund einer "Demokratisierung im westlichen Sinne" würde das Land nach Einschätzung von Experten unregierbar machen, da der ureigene Fraktionismus im Lande Auftrieb erhielte. Auseinandersetzungen wie in Italien oder auf dem Balkan sind denkbar und in diesem Falle sogar sehr wahrscheinlich. Die Probleme für die Politik, die sich durch die Öffnung ergeben, sind bekannt und werden diskutiert.
Vereinzelt reagiert die Partei noch immer sehr restriktiv. Dennoch ist das Entstehen von Freiräumen unverkennbar. Allerdings muß sich die Kommunistische Partei stets den sich ändernden Bedingungen anpassen und die Initiative bei der Reformpolitik behalten, wenn die Stabilität gewahrt werden soll.
Überstürzte Reformen nach westlichem Vorbild in der Politik würden zwar das Erscheinungsbild nach außen hin verbessern. Daß solche Reformen derzeit eine gesellschaftliche Grundlage finden, muß bezweifelt werden. Solange die kleinen kommerziellen Freiheiten gewahrt bleiben, ist mit einem breiten Widerstand der Bevölkerung nicht zu rechnen.
Eine Demokratisierung bei 80% Landbevölkerung, die ihre Traditionen nicht unbedingt aufgeben will, erscheint darüber hinaus auch zukünftig fraglich.
Vietnam wird weiterhin danach streben, unabhängig zu bleiben. Die Gefahren einer zu schnellen und unkontrollierten Entwicklung werden gesehen, wenn auch bisher konzeptionslos verarbeitet.
Vietnam wird mittelfristig nicht nur ein kleiner, sondern großer Tiger werden, wobei der Begriff des "kleinen Tigers" auf dem Hintergrund der realen Wirtschaftsmacht von Süd-Korea, Hong Kong, Singapur z.B. verniedlichend ist.
Das Problem für Ausländer liegt nicht bei unvollständigen gesetzliche Rahmenbedingungen, sondern in der fehlerhaften Anwendung und Umsetzung der bestehenden vietnamesischen Gesetze.
Vietnam ist bestrebt, eine Abhängigkeit von einem bestimmten Land zu vermeiden. Das eröffnet Spielräume für Investoren, die aus anderen Regionen dieser Welt kommen.
Das Lohnkostenniveau ist günstig. Positiv sind auch die Rohstoff- und Rohölvorkommen
Vietnam befindet sich im Kerngebiet der dynamischsten Wachstumsregion der Welt und übernimmt strategisch eine wichtige Rolle in der Regien nach 1997, wenn Hong Kong an China fällt.
Mit seinen 70 Mio. Einwohnern, von denen fast 50% unter 21 Jahren sind, verfügt das Land über ein großes Entwicklungspotential. Weit über 90% der Bürger können lesen und schreiben. Damit liegt Vietnam auf dem Niveau von Europa. Die labour force besteht aus 35 Millionen arbeitsfähiger Menschen, die jedes Jahr um weitere 1 Million Arbeitnehmer wächst. Mit einem derzeitigen gesetzlichen Mindeslohn für industrielle Arbeitnehmer von 35 US$ ist Vietnam international durchaus konkurrenzfähig.
Vietnam ist nach japanischer Einschätzung das Land in der südostasiatischen Region, das binnen kürzester Zeit aus eigener Anstrengung in der Lage ist, die Strukturprobleme der nachkommunistischen Zeit zu überwinden.
Die vietnamesische Geschäfts- und Regierungspolitik zielt auf ausgeglichene Wirtschaftsbeziehungen mit allen Industrienationen. Abhängigkeiten von einem Land sollen von Anfang an vermieden werden. Daher wird auch bei der Durchführung von Großprojekten streng darauf geachtet, daß alle möglichen Partnerländer mit ihren Firmen bei der Auftragsvergabe berücksichtigt werden. Als Beispiel hierfür kann der Vertrag über den Ausbau der Telekommunikation zwischen Hanoi und HCHMC mit der Siemens AG dienen, der von der vietnamesischen Seite im Wege einer Nachverhandlung aufgespalten wurde, damit die Alcatel zumindest teilweise berücksichtigt werden konnte. Die Installation zweier unterschiedlicher Technologiekonzepte in einem strategischem Bereich wurde dabei in Kauf genommen.
Vietnam arbeitet an der Verabschiedung einer umfassenden Rahmengesetzgebung, die im Verlauf von 5 bis 10 Jahren fertiggestellt und umgesetzt werden soll. Die bestehenden Lücken sollen kontinuierlich geschlossen werden. Entwürfe in der Diskussion: Arbeitsgesetzbuch, Haushaltsgesetzbuch, Umweltschutzgesetzbuch, Novellierung der Steuergesetzgebung, Inlandsinvestitionsfördergesetz, Konkursgesetz, Kooperationsgesetz, Gesetz über die Organisation der Wirtschaftsgerichte, Strafrechtsänderungsgesetz. Einzelne Ordinanzen werden geändert und als Gesetze verabschiedet. Ungeklärt ist nach wie vor die Frage, in welchem Umfang Ausländer und ihre Unternehmen Eigentum in Vietnam erwerben können. Die Inanspruchnahme von Nutzungsrechten im Rahmen von Gemeinschaftsunternehmen bestimmt noch nicht den Eigentumserwerb an Sachen. Rechtsschutz gegen administrative Entscheidungen besteht nicht.
Und abschließend:
Kein Land in Asien kann auf soviele Deutsch sprechende und mit deutscher Technik vertraute Bürger verweisen wie Vietnam. 5.000 Studenten aus Vietnam wurden in der DDR akademisch ausgebildet und ca. 100.000 vietnamesische Arbeitskräfte zu Facharbeitern ausgebildet.
Die historische Bindung an Europa hat dazu beigetragen, daß viele vietnamesische Intellektuelle auch im Zeitraum des Krieges eine Ausbildung im Ausland erhalten haben, die Ihnen heute zu gute kommt. Ausländische Investoren finden daher verglichen mit der Situation in China nach der Öffnung im Jahre 1978 eine weitaus bessere Ausgangsposition vor.
Auf Führungsebene finden sich in allen Entscheidungsbereichen entsprechende deutschsprechende Fachkräfte, die allerdings verloren gehen, wenn man sich nicht frühzeitig um sie kümmert. Ein jeder von den mir bekannten Vietnamesen verbessert nicht etwa seine Deutschkenntnisse, sondern lernt Englisch oder Französisch hinzu, weil diese heute vorteilhafter erscheinen. Die Investitionen aus dem englisch-französischen Sprachraum sind als führend zu bezeichnen.
Ein weiterer Vorteil der Deutschen ist, daß sie beliebt sind, während die Vietnamesen die Geschäftspartner aus Asien aufgrund von vielen negativen Erfahrungen gering schätzen. Besonders negativ scheint derzeit das Ansehen der Südkoreaner und Hong Kong Chinesen zu sein, da Unternehmer aus diesen Regionen häufig in Korruptionsaffären, Betrügereien und Entlohnungsskandale verwickelt sind. Japaner und Taiwanesen werden geschätzt aber lange nicht so sehr verehrt wie etwa US-Amerikaner und Deutsche. Europäische Besucher Vietnams müssen immer wieder erstaunt feststellen, daß der Leitspruch der Linken der frühen siebziger Jahre "Ami go home" dem Ruf "Ami come home" gewichen ist.
Allerdings gehört Geduld zu den Tugenden, die gerade in Vietnam von Bedeutung sind. Auf lange Sicht sollte geplant werden. Ein Beispiel für die Sichtweise liefern wie immer die Japaner, die mit Gebrauchtwagen zuerst nach Vietnam kamen, um ein Händler- und Servicenetz aufzubauen. Heute können Neuwagen über die in der Vergangenheit preiswert aufgebauten Servicestationen vertrieben werden.